Sternzeit - Zeitschrift astronomischer Vereinigungen > Archiv / Suche > Ausgabe 4/2022 > Aktuelle Seite

Titelstory
Datierung der ältesten Sonnenfinsternis

Emil Khalisi

Abb. 1: Chinesischer Astronom mit einer Armillarsphäre aus dem Jahr 1675

Abb. 2: Beispielseite aus dem rekonstruierten Schujing

Die traurige Geschichte der chinesischen Astronomen Hi und Ho, die aufgrund einer Sonnenfinsternis ihr Leben verloren, wird oft als der älteste Finsternisbericht präsentiert. Das verbreitete Datum übertrumpft sämtliche Berichte über Sonnenfinsternisse aus den übrigen Kulturen um mehr als 800 Jahre. Eine Recherche in den Quellen mitsamt einem Abgleich von Nebeninformationen hat eine neue Interpretation erbracht: Der historische Kontext passt aller Voraussicht nach zur Finsternis vom 3. September 1903 vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z).

Der weltweit früheste Bericht über eine Sonnenfinsternis schildert das fatale Schicksal zweier Astronomen am Hofe des chinesischen Kaisers: Hi und Ho sollen enthauptet worden sein, weil sie auf das Naturschauspiel nicht vorbereitet gewesen sind. Überliefert ist das Drama im chinesischen „Buch der Urkunden“, dem Schujing, und soll sich in der Herrschaftszeit des vierten Kaisers Zhong Kang aus der 1. Kaiser-Dynastie, der Xia, zugetragen haben. Unter den Legenden ist die Finsternispassage besonders populär geworden.

Seit mehr als einem Jahrhundert datiert man das Ereignis auf den 22. Oktober 2137 v.u.Z.. Wie kommt man auf dieses Datum? Stimmt es überhaupt? Eine Vielzahl von Unzulänglichkeiten hat Zweifel am landläufig genannten Tag genährt. Diese Finsternis war nämlich ringförmig, und sie fiel zudem in der damaligen Hauptstadt nur partiell aus. Der Bedeckungsgrad kann 85% nicht überschritten haben. Um die Zusammenhänge, die im Bericht dargeboten werden, richtig zu verstehen, muss man zunächst in die Kulturgeschichte Chinas einsteigen.

Die Textquellen

Die Astronomie war im alten China stets mit den Interessen des Herrscherhauses verflochten (Abb. 1). Der Kalender galt als sakrales Werk, das in einer feierlichen Zeremonie am ersten Tag des 10. Monats dem Monarchen und seiner Familie übergeben wurde. Als offizielles Dokument besaß der Kalender sogar Gesetzeskraft [6]. Generell war die Sternkunde dem Staatsapparat so wichtig, dass die Kenntnisse wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurden. Die Sternkundigen lebten daher innerhalb der Palastmauern. Wenn ein Mitarbeiter der Astronomiebehörde etwas von seiner Arbeit ausplaudern sollte, wurde er des Landesverrats bezichtigt. Dies geht aus einem Edikt des Jahres 840 hervor, d.h. es war noch im Mittelalter so.

Der Schujing, wörtlich das „Buch der Urkunden“, wurde von Konfuzius (551–479 v.u.Z.) geschrieben und zählt zur ältesten Literatur Chinas. Es enthält Ansprachen, königliche Erlasse, Befehle, Reden wie auch Ernennungen von hohen Beamten seit Gründung des Reiches. Eingebettet in eine elegante Sprache, sind darin wichtige Ereignisse der chinesischen Geschichte aufgeführt. Ganz nebenbei finden sich darin die ältesten Bemerkungen zu astronomischen Vorfällen, darunter auch jener Finsternisbericht über Hi und Ho. Die Urkundensammlung enthält keine kontinuierliche Erzählfolge, ebenso wenig zielt sie auf eine Chronologie von Ereignissen ab [4]. Dem Buch kommt eher die Funktion einer Moralbelehrung zu.

Das Original des Schujing wurde bei der Bücherverbrennung von 213 v.u.Z. vernichtet, so wie viele andere Schriftstücke. Diese Bücherverbrennung ist ein einschneidendes Vorkommnis gewesen, als der Herrscher der kurzlebigen Qin-Dynastie groß angelegte Maßnahmen durchgeführt hatte, um gegen den Konfuzianismus sowie andere Denkströmungen vorzugehen. Er wollte den Staat reformieren und die Geschichte des Landes von Grund auf neu schreiben lassen.

Nichtsdestotrotz hat man sich um eine Restaurierung des Werks von Konfuzius bemüht. Im Auftrag eines Herrschers im 3. oder 4. Jahrhundert unserer Zeit, also mehr als ein halbes Jahrtausend nach dem Verlust des Originals, hat man Fragmente gefunden, ein Inhaltsverzeichnis sowie Zitate aus vielen anderen Büchern, derer man habhaft werden konnte. Es heißt, dass man 28 oder 29 Kapitel von den einst 100 auftreiben konnte [1]. Das Kapitel über die Sonnenfinsternis war allerdings nicht darunter. Man muss davon ausgehen, dass viele Passagen aufgefüllt worden sind. Eventuell hat man mündliche Überlieferungen berücksichtigt oder spätere Kenntnisse einfließen lassen. Egal, wie gut die Restauration gelingen konnte, es war klar, dass Lücken unvermeidbar waren (Abb. 2). Als das größte Manko gilt aus heutiger Sicht, dass der beauftragte Schreiber, seinerseits unbekannt, bei seiner Arbeit keine Angaben gemacht hatte, welche Quelle ihm vorlag oder welchem Hinweis er gefolgt war. Ihm war anscheinend nur das Ergebnis wichtig, nicht der Weg dorthin.

Neben dem Schujing stößt man zu ebendieser Finsternis auf zwei, evtl. drei weitere Andeutungen in anderen Schriftstücken. Ihnen kommt eine geringere Bedeutung zu, so dass der Autor sie an anderer Stelle ausführlicher diskutiert [7].

Literatur

[1] Brown, F. Crawford (1931): Popular Astronomy 39, p567–573
[4] Fotheringham, John K. (1921): „Historical Eclipses“, p9–16
[6] Keller, Hans-Ulrich (2006): „Der Kalender im alten China“, in: Kosmos Himmelsjahr 2006, p113–118
[7] Khalisi, Emil (2020): arXiv:2006.04674, 8 June 2020 (13 S.) + Habilitationsschrift Uni HD, Feb. 2020, Kap. 10.2

 

Titelbild Ausgabe 4/2022

Dieser Text ist eine Leseprobe. Den vollständigen Text finden Sie in

Ausgabe 4 / 2022

Hier finden Sie das Inhaltsverzeichnis.

Die Sternzeit-Ausgabe 4 / 2022 können Sie bei Klicken zum Anzeigen bestellen.